Ethikrat-Mitglied Wolfram Henn spricht im „DomWort“ über Leben in der Pandemie:„Das Virus kennt keine Moral“
Trier – Wie können wir mit dem Corona-Virus leben und welche Schranken sind unserem Handeln gesetzt? Wo endet die persönliche Freiheit und wo fängt die Verantwortung für den Nächsten an? Wie sieht es mit dem Zugang und den Empfehlungen für Covid-19-Impfstoffe aus? Beim zweiten DomWort – einem neuen Format des Bistums Trier – standen diese Fragen im Fokus des Vortrags von Professor Dr. Wolfram Henn am 19. November im Trierer Dom. Der Mediziner und Humangenetiker ist Mitglied im Deutschen Ethikrat, einem Gremium aus 24 Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen, das die Politik zu wichtigen ethischen Themen berät.
Menschen erleben die Pandemie als Grenzerfahrung
Ihn erinnere die aktuelle Lage der Menschheit an das Raumschiff Apollo 13, das einen technischen Defekt aufwies und von der Crew während der Mission repariert werden musste. „Wir sitzen in jenem Raumschiff; es gibt keine Bremse, es gibt keinen Rückwärtsgang und keinen Reset-Knopf, um nach einem Fehler neu anfangen zu können. Kleine Steuerimpulse können große Wirkung entfalten und wir werden erst nachträglich einschätzen können, was richtig oder falsch gewesen ist, denn wir haben kein Erfahrungswissen, auf das wir aufbauen können“, so Henn. Dabei sei es unvermeidlich, dass einige Entscheidungen sich auch als Irrwege erweisen könnten. Hier sei Platz für eine urchristliche Tugend: Die Demut. Auf die Pandemie sei man nicht richtig vorbereitet gewesen, da man zu lange verdrängt habe, dass es zu einer solchen jederzeit kommen könne. Deshalb erlebten die Menschen derzeit eine Grenzsituation. „Unsere Psyche ist darauf eingerichtet, Belastungen zu ertragen, die ein absehbares Ende haben. Doch nun weiß niemand so recht, wo die Reise hingeht und wie lange sie dauern wird. Dieses Gefühl der Ungewissheit erzeugt Ängste, aber zugleich öffnet es Räume für Hoffnung in das Gelingen dessen, was wir tun. Und es fordert uns Entscheidungen und Verantwortung auf allen Ebenen unseres Zusammenlebens ab, die wir nur zum Teil nach oben in die Politik delegieren können“, so Henn. „Wir dürfen es uns nicht bequem machen. Wir müssen selber unser Verhalten im Kleinen aufsummieren zu einem Ergebnis im Großen“, forderte er die Hörerinnen und Hörer auf.
Wer sich selbst einem Risiko aussetzt, gefährdet auch seine Mitmenschen
Pandemien habe es schon immer gegeben. Doch während unsere Vorfahren dem „Schwarzen Tod“ im Mittelalter (der Pest) oder der Spanischen Grippe von 1918 hilflos ausgeliefert gewesen seien, verfüge die Menschheit heute über Wissen und Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit ihnen. Die jetzige Krise mit ihrem Kampf gegen einen unsichtbaren Gegner sei vor allem die Stunde der Wissenschaft. „Und diese findet sich nun in einer Rolle wieder, auf die sie weder in ihren Strukturen noch in ihrem Selbstverständnis vorbereitet war.“ Denn wissenschaftliche Empfehlungen und Erkenntnisse würden von der Politik mitunter eins zu eins in Entscheidungen über unser aller Leben überführt: durch Lockdowns, Schulschließungen oder die Reaktion der Aktienmärkte auf Pressemeldungen über Impfstoffe. „Dass Virologen oder Ethikerinnen gesellschaftlicher Einfluss zuerkannt wird, mag ihnen schmeicheln. Aber dass sie neuerdings sogar als mächtig wahrgenommen werden, ohne dafür demokratisch legitimiert zu sein, das ist ihnen selber unheimlich, das können Sie mir glauben“, beteuerte Henn. „Dies umso mehr, als dass das Urprinzip der Wissenschaft der Selbstzweifel ist. Endgültige Wahrheiten mag man im Glauben suchen, aber nicht in der Wissenschaft“.
Eine gesunde Skepsis gegenüber wissenschaftlicher und politischer Autorität sei sicher angebracht und führe in eine Verantwortung für das eigene Tun im täglichen Leben, so der Medizinethiker weiter. „Aber sie führt eben nicht in ein Recht oder eine Pflicht zur Verweigerung, um es „denen da oben mal zu zeigen.“ Pragmatisch-kluges Handeln sei in diesem Fall auch ethisch richtig, denn es gelte der Grundsatz: ‚Hilf dir selbst, dann hilfst du auch anderen‘. Bezogen auf die Corona-Leugner und Querdenker wurde Henn sehr deutlich: „Genau diese Parallelität von Selbstschutz und Fremdschutz ist der Grund dafür, dass sich unvernünftiges Handeln selbsternannter Querdenker eben nicht als freie Persönlichkeitsentfaltung rechtfertigen lässt.“ Denn wer leichtfertig sich selbst in Gefahr bringe, gefährde zugleich auch seine Kinder, seine Arbeitskollegen und den ahnungslosen Mitmenschen in der Warteschlange vor der Ladenkasse. „Das Virus kennt keine Moral. Es trifft uns alle, aber eben nicht alle in gleicher Weise, sondern die Schwächsten in unserer Gesellschaft am härtesten: Nämlich Alte und chronisch Kranke“. Eine gerechtfertigte Ungleichbehandlung in vielen Lebensbereichen sei daher notwendig, wenn auch diskussionswürdig. So könne man trefflich darüber diskutieren, warum Fitnessstudios oder Restaurants schließen müssten, Friseure aber geöffnet bleiben dürften. „Es gibt kein objektivierbares Richtig oder Falsch. Das Ändern von Regeln ist nicht mit Willkür gleichzusetzen, sondern mit der Anpassung an Notwendigkeiten.“
Klar sei auch: Gleichartige Maßnahmen könnten sich in manchen Bereichen individuell höchst unterschiedlich auswirken. 14 Tage Quarantäne seien für einen jungen gesunden Menschen mit geräumiger Wohnung und Zugang zu sozialen Medien vielleicht nervig. Für einen hochbetagten, vielleicht demenzkranken Menschen im Pflegeheim seien sie eine existenzielle Katastrophe. „Monatelange Besuchsverbote in Altersheimen, wie sie für notwendig erklärt wurden, waren für viele Betroffene nichts anderes als Einzelhaft. Dass Menschen alleine sterben mussten, ohne Angehörige und ohne seelsorgerischen Beistand war schlicht unmenschlich. Wir sollten es nicht beschönigen: Hier hat sich unsere Gesellschaft an den Schwächsten versündigt und das darf sich nicht wiederholen. Deshalb stehen wir jetzt und für die nächsten Monate ganz besonders in der Schuld dieser Menschen“, mahnte Henn. Deshalb fordere er auch, dass die knappen Antigen-Schnell-Tests nicht an die Tore von Fußballstadien und Konzerthallen gehörten, sondern an die von Pflegeheimen und Schulen. „Denn unsere Kinder leiden am zweitmeisten unter der Pandemie. Nicht unbedingt an körperlichen Komplikationen; aber umso nachhaltiger leidet die soziale und geistige Entwicklung.“
Gibt es eine moralische Verpflichtung zur Impfung?
Bald seien nun die Impfstoffe verfügbar, die ein Licht am Ende des Tunnels bedeuteten. Die Empfehlung des Ethikrates sei klar: Zunächst sollten hoch betagte Menschen, besonders infektionsgefährdetes Personal aus Medizin und Pflege, von Ordnungsbehörden, der Feuerwehr und dem Bildungswesen geimpft werden. Um eine Herdenimmunität zu erreichen sei dann im Weiteren wichtig, dass sich zwei Drittel der Bevölkerung impfen lassen. Henn warnte, dass viel ideologisch vorgefärbtes gerade in den sozialen Medien gepostet werde, was denkbare Impfrisiken angehe. „Und das gerade von Leuten, die nicht auf profunde Sachkenntnis verweisen können. Meinung statt Ahnung zu kommunizieren, ist eine besonders gefährliche Form von Verantwortungslosigkeit.“ Dass die Covid-19-Impfstoffe so schnell bis zur Einsatzreife gekommen seien, liege nicht an qualitativen Kompromissen bei den Zulassungsverfahren, sondern schlicht daran, dass die für klinische Studien vorgeschriebenen Probandenzahlen unter dem Druck der Pandemie mit beispiellosen finanziellem und personellem Aufwand innerhalb weniger Monate (anstatt wie sonst üblich innerhalb weniger Jahre) erreicht worden seien, erklärte Henn. Die Nutzen-Schaden-Abwägung weise in jeder denkbaren Dimension in die Richtung, dass es gut sei, sich impfen zu lassen. „Alle Erfahrungen und Studien lassen nur einen Schluss zu: Es ist viel wahrscheinlicher, durch die Krankheit Schaden zu nehmen, als durch die Impfung. Es ist sicher, dass Tausende von Leben verloren gehen und Existenzen vernichtet werden, wenn wir es mangels gemeinsamer Impfanstrengung versäumen sollten, unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft aus der Agonie zu führen“, unterstrich der Professor. Es werde keine rechtliche Impfpflicht geben, aber er sehe eine moralische. Henn schloss seinen Vortrag mit einem hoffnungsvollen Ausblick: „Nichts schweißt eine Gemeinschaft fester zusammen als eine gemeinsam bestandene Prüfung. Und viel Gutes, etwa ein achtsamer Umgang miteinander, können wir in die Post-Corona-Zeit mitnehmen.“
Weitere Informationen zu der Veranstaltungsreihe „DomWort“ gibt es auf www.domwort.de.
(sb)