Trierer Bistumsarchiv blickt auf 85 Jahre Arbeit zurück und stellt sich neuen Herausforderungen:Das kollektive Gedächtnis der Kirche von Trier
Trier – Würde man das gesamte Archivgut, das im Trierer Bistumsarchiv verwahrt wird, Regal an Regal entlang der Straße aufstellen, entstünde eine Bücherwand, die von der Benediktinerabtei St. Matthias im Süden der Stadt bis zur Basilika St. Paulin im Norden führte. Von dort aus müsste man allerdings wieder kehrt machen, um im letzten Band des untersten Regalbretts im Schatten des Domes zu schmökern. Über 5.000 laufende Regalmeter verwaltet das achtköpfige Archivteam aktuell unter der Leitung von Direktorin Dr. Monica Sinderhauf. Sein Auftrag: das gesamte kirchliche Leben der Trierer Diözese über die Jahrhunderte hinweg so lückenlos wie möglich zu dokumentieren und dieses Wissen für die Zukunft zu erhalten. Ein Ziel, dem bereits Sinderhaufs erster Vorgänger Dr. Alois Thomas verpflichtet war, als das Bistumsarchiv im Mai 1936 auf Beschluss des Trierer Domkapitels gegründet wurde. 85 Jahre später blickt das Archiv auf eine bewegte Zeit zurück und stellt sich den aktuellen Herausforderungen.
Bereits wenige Jahre nach seiner Gründung ist das Diözesanarchiv einer akuten Bedrohung ausgesetzt: Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbricht, ist dem damaligen Archivdirektor Thomas klar, dass er seine Bestände in Sicherheit bringen muss. Peu à peu packt er die Schriftstücke in mit Ölpapier ausgeschlagene Holzkisten und deponiert sie in einem Kellerraum unter dem Dom. „Als 1943/44 viele Trierer vor den Bombenangriffen flüchteten, blieb Dr. Thomas in der Stadt und versuchte, auch die gefährdeten Bestände der Pfarrarchive zu sichern“, erzählt Direktorin Sinderhauf – was ihm auch gelang. In den Folgejahren wurden die Archivalien, die sich ursprünglich aus den Beständen des Domarchivs und des Ordinariats speisten, um Dokumente aus den Pfarreien, des Bischöflichen Konvikts, des Priesterseminars sowie weiterer kirchlicher Einrichtungen und Organisationen erweitert.
Rückschlüsse aus den Informationen zwischen den Zeilen
Der damalige Anspruch, Altes und Kostbares wie etwa mittelalterliche Handschriften, illuminierte Stundenbücher oder seltene Inkunabeln (Wiegendrucke) aus den Anfängen des Buchdrucks zu bewahren, habe sich im Laufe der Jahre um einen wichtigen Aspekt erweitert, erklärt Diplom-Archivar Stefan Nicolay. „Damals gab es kaum Kontinuität, kaum Aktenaustausch zwischen dem Bistumsarchiv und dem Generalvikariat. Das hat sich inzwischen geändert und dient nicht nur der laufenden Schriftgutverwaltung, sondern auch der Überlieferung.“ Sinderhauf erklärt den Mehrwert: „Die Akten, die bei uns im Archiv landen, dokumentieren Vorgänge über die Dauer eines gesamten Prozesses.“ Es geht also nicht nur um das WAS, sondern auch um das WIE. „Über die reine Information hinaus, die darin geschrieben steht, können wir rekonstruieren, wie die Beteiligten gearbeitet haben.“ Entscheidungsfindungsprozesse könnten so transparent gemacht werden. Nicolay geht sogar einen Schritt weiter: „Wenn man eine vollständige Akte zu einem Vorgang hat, können Historiker anhand der Bemerkungen Rückschlüsse auf die Persönlichkeit der beteiligten Personen, den Leitungs-Stil der Entscheidungsträger, ziehen.“ Kirchenpolitische Entwicklungen könnten so um eine weitere Dimension ergänzt werden und Entscheidungen besser nachvollzogen werden.
Konserviert werden also nicht nur die reinen „hard facts“, also die Informationen, die in den Dokumenten enthalten sind, sondern auch deren formal-logischer Aufbau und das, was man „zwischen den Zeilen“ über die Autoren, über die Zeit, in der sie lebten, und das soziale Gefüge erfährt. Schaue man sich beispielsweise Kirchenbücher aus den Pfarreien des Bistums an, finde man zuweilen neben Einträgen zu Taufen, Eheschließungen und Sterbefällen auch Randbemerkungen zum Wetter, Rezepte für Heilmittel und Kräutertinkturen oder Anleitungen, wie man seine eigene Tinte herstellt. Daneben fänden sich auch „sensible und heikle Daten“, die Rückschlüsse auf familiäre Befindlichkeiten in den Gemeinden offenkundig machten, so Nicolay. „In den sogenannten Pfarrkarteien haben Seelsorger über viele Jahre hinweg aufgeschrieben, wenn es in einzelnen Familien Probleme gab, zum Beispiel exzessiver Alkoholkonsum.“
Damit sollte potentiellen Nachfolgern ein Hinweis gegeben werden, welchen Familien besondere seelsorgerische Aufmerksamkeit und Zuwendung entgegengebracht werden müsse. Ahnenforscher, die den Service des Bistumsarchivs nutzen können, um ihren Stammbaum zu erforschen, stoßen deshalb immer wieder an Grenzen. „Das sind Informationen, die nicht vernichtet werden dürfen, die aber auch einer gewissen Diskretion bedürfen“, erklärt Nicolay. „Deshalb liegt es in unserer Verantwortung, die Einhaltung der Schutzfristen zu gewährleisten.“
Platz schaffen für das kollektive Gedächtnis
Mit Blick auf die Zukunft des Bistumsarchivs sei auf zwei Faktoren besonderes Augenmerk zu legen, betont Sinderhauf. Einerseits gelte es, die Langzeitarchivierung zu gewährleisten, insbesondere in Bezug auf Digitalisate und die Einführung der E-Akte. Andererseits müsse physisch Platz geschaffen werden für die Schriftstücke, die künftig aus den Pfarreien in das Bistumsarchiv überführt werden. „Mit dem staatlichen Archivgesetz von 1988 und dem kirchlichen von 1989 gibt es die Anordnung, alle relevanten Dokumente zu sichern. Damit haben wir einen klaren Auftrag, dem wir aber nur nachkommen können, wenn wir über die entsprechenden Ressourcen verfügen.“ Der Bestand wird sich in den kommenden Jahren vervielfachen, so viel steht fest. Zu den jetzt schon üppigen 5.000 laufenden Regalmetern werden zahlreiche hinzukommen, um dem Anspruch gerecht zu werden, den das Archiv-Team seit 85 Jahren akribisch verfolgt: das kollektive Gedächtnis des Bistums Trier für die Nachwelt zu erhalten.
(ih)