Seit Anfang des Jahres ist Michael Müller Gefängnisseelsorger für das Saarland:Die Frage von Schuld und Vergebung
Quierschied - Acht Türen sind zwischen ihm und seinem Schreibtisch, wenn Gefängnisseelsorger Michael Müller morgens gegen 8.30 Uhr vor den Toren der Justizvollzugsanstalt Saarbrücken steht und eingelassen werden möchte. „Und es wären noch mehr Türen, wenn sich mein Büro nicht im Verwaltungstrakt, sondern im eigentlichen Gefangenentrakt befinden würde.“ Was ihm lieber wäre. Denn dafür ist er seit Anfang des Jahres da: Um Kontakte aufzubauen, Gespräche zu führen, um zuzuhören und um da zu sein – für die Gefangenen und für die Mitarbeitenden.
Anfang 2020 wurde Müller als Nachfolger des langjährigen Gefängnispfarrers Peter Breuer eingeführt. Breuer hatte, bevor er 2018 in Ruhestand ging, Müller zu diesem Stellenwechsel motivieren können. Beide kannten sich bereits über die Notfallseelsorge. Als Gefängnisseelsorger im Saarland ist Müller nun in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Saarbrücken, der Justizvollzugs- und Jugendstrafanstalt in Ottweiler und deren Teilanstalt in Saarlouis eingesetzt.
„Mein Tag besteht fast ausschließlich aus persönlichen Kontakten und Gesprächen.“ Es gebe zwar an den Wochenenden auch einen Gottesdienst, die Wochentage seien aber strukturiert durch die vielen Gespräche, was ihm gut gefalle. „Ich kann – um mit den Worten der Diözesansynode zu sprechen – in meiner Arbeit jetzt ausschließlich diakonisch und missionarisch wirken“, erzählt Müller. Er möchte in diesem Punkt nicht missverstanden werden. „Ich war sehr gerne Gemeindepriester“, versichert er, während er die Stationen nach seiner Priesterweihe im Jahre 1995 aufzählt: „Kaplan war ich in Elversberg, es folgten Stationen in Uchtelfangen, von 2001 bis 2014 in Altenkessel/Rockershausen und schließlich die Pfarrerstelle in Quierschied.“ Aber er verleugnet auch nicht, dass er – ohne den zu leitenden Verwaltungsapparat einer Pfarrei – nun so wirken kann, wie es ihm zuvor nicht möglich war. „Als Priester hat man zwar immer mit den existenziellen Fragen nach Schuld und Vergebung zu tun, aber jetzt sind diese Auseinandersetzungen für mich noch intensiver und noch kontinuierlicher.“
Ansprechpartner für Gefangene und Bedienstete
In der Regel seien es die Gefangenen, die ihn um ein Gespräch bäten. „Und manchmal scheinen die Anfragen banal – manchmal geht es nur darum, dass jemand ein Feuerzeug braucht, oder einen Kugelschreiber.“ Man müsse sich im Klaren darüber sein, dass ein Gefängnis ein Ort des Mangels sei, eben auch des Mangels materieller Selbstverständlichkeiten. „Aber oft ergibt sich aus diesen Anfragen ein erster Kontakt, vielleicht ein Gespräch. „Deswegen fühle ich mich da auch nicht ausgenutzt, denn letztlich ist es ein erster Schritt für die Gefangenen, diesen Mangel anzusprechen, was oft nicht leicht fällt.“ Manchmal gehe er auch von sich aus auf Gefangene zu, etwa wenn man in den Gesprächen mit den Psychologen, Pädagogen und Sozialarbeitern auf einzelne Häftlinge zu sprechen komme. Und dann ergeben sich ungeplante Kontakte auf dem Flur, etwa zu Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der JVA. „Ich bin ja nicht Gefangenenseelsorger – ich bin Gefängnisseelsorger, und da sind die Angestellten mit inbegriffen.“
Für die Gespräche geht er zu den Gefangenen hin, am besten in deren Haftraum. Manchmal bleibt es dann bei diesem einen Gespräch. Von manchen wird er aber auch häufiger angefragt, sodass sich die Möglichkeit eröffnet, den Gefangenen über einen längeren Zeitraum zu begleiten. „Habe ich dabei zugehört?“ Diese Frage sei ihm wichtiger als die nach ‚Erfolg‘ oder nach einer ‚Wirkung‘. „Ich habe dabei den Vorteil, dass ich kein Angestellter der JVA bin. Für mich gilt das Beichtgeheimnis“, für die Gespräche mit den Insassen genauso wie für die mit den Angestellten, die in ihm nicht den Kollegen sehen, sondern jemanden, der außerhalb des Systems steht.
Konfession oder Religion spielen keine Rolle
Oft kreisen die Fragen um Schuld und Vergebung, um Reue und Einsicht. Und da unterscheiden sich Gefangene seiner Erfahrung nach kaum von den Menschen da draußen: „Vielen von uns denken doch zunächst: Schuld sind die anderen.“ Hier aber habe die Frage nach dem eigenen Anteil, nach dem Punkt, an dem man selbst Schuld auf sich geladen habe, eine tiefere Radikalität. Ihm selbst – geboren und aufgewachsen im saarländischen Dudweiler – sei bei diesen Gesprächen klar geworden, dass es oft Glück oder Kleinigkeiten sein können, die die Richtung eines Lebensweges bestimmen: „Und für dieses Glück bin ich froh und sehr dankbar.“
Vor jedem Gespräch informiere er sich über den Haftgrund seines Gesprächspartners, „auch damit man sich nichts gegenseitig vormachen kann und man möglichst ehrlich miteinander umgeht.“ Die Konfession oder die Religion des Gesprächspartners spiele keine Rolle. „Meiner Erfahrung nach ist es einfacher, mit älteren Gefangenen ins Gespräch zu kommen – die jüngeren wollen noch nicht so gerne über tiefergehende Themen sprechen, sondern oft eher ‚cool‘ sein.“ Sein Schutz vor einem ‚zu viel‘ an Problemen und Gedanken sei der gleiche wie der eines Gemeindepriesters. „Auch früher stand ich oft vor der Frage: Was nehme ich mit hinter die Tür? Was nicht? Und was nehme ich auch mit ins Gebet?“ Illusionen und Vorurteile habe er ablegen müssen, seit er in den JVA arbeitet. „Man denkt sich zunächst vielleicht: ‚Den Gefangenen geht es doch eigentlich ganz gut‘“, bis man die Enge, das Bedrängte und dann auch den Mangel selbst erlebt habe. „Das hier ist kein Luxus.“ Nicht für jemanden, für den die mindestens acht Türen verschlossen bleiben.
(tef)