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Bundespräsident a.D. Wulff spricht im „Forum Bürgerkirche” in St. Gangolf zu „Liebe und Hass – Gedanken zur Demokratie“:„Es kommt auf uns an!”

Bundespräsident a.D. Christian Wulff spricht im „Forum Bürgerkirche” in St. Gangolf zu „Liebe und Hass – Gedanken zur Demokratie“.
Foto: Mechthild Schneiders
Datum:
4. Nov. 2022
Von:
Bischöfliche Pressestelle

Trier – Es könnte friedlicher kaum sein. Die gut 200 Gäste in der Markt- und Bürgerkirche St. Gangolf direkt am Trierer Hauptmarkt bestaunen am 2. November den in Sanierung befindlichen Altarraum, wo die leuchtenden Farben des Lasinsky-Chorfreskos hinter dem Gerüst bereits zu erahnen sind, lassen den Blick an den frisch getünchten Wänden entlang nach oben zu den bunten Schlusssteinen des rot gefärbten Gewölbes gleiten. Doch die Worte von Vortragsgast Christian Wulff, von 2010 bis 2012 Präsident der Bundesrepublik Deutschland, stimmen bedenklich. Unter dem Titel „Liebe und Hass“ macht er sich „Gedanken zur Demokratie“. Und die gibt es, folgt man seinen Worten, nicht geschenkt.

Der Sturm auf das US-Kapitol, der russische Überfall auf die Ukraine, der Rechtsruck in einigen europäischen Staaten: „Es gibt viele negative Botschaften. Vielen Menschen ist die Welt zu schnell geworden, zu undurchsichtig“, sagt Wulff. Das sei der Nährboden, auf dem sich Furcht und Hass schüren ließen. Wulff spricht auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung im Rahmen der Reihe „Forum Bürgerkirche“ des Kuratoriums Markt- und Bürgerkirche St. Gangolf. Dieses möchte, so ihr Vorsitzender Bernhard Kaster, während ihrer grundlegenden Sanierung die Kirche, die im Juli 2020 begonnen hat und mit der Weihe des Altars an Ostermontag 2023 enden wird, Stück für Stück den Bürgerinnen und Bürgern zurückgeben. So sei die Idee einer Veranstaltungsreihe gewachsen, mit einem Gastspiel des Mosel Musikfestivals, einer Ausstellung und Vorträgen.

Zusammenhalt ist Aufgabe der Gesellschaft

„Wir leben in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg in Frieden, in einer weltoffenen Demokratie, einem Rechtsstaat“, sagt Wulff. Doch das komme nicht von alleine. Nichts sei von Dauer, wenn man nichts tue. „Es kommt auf uns an!“ Jede Generation habe ihre große Aufgabe. „Bei meinen Eltern war es der Wiederaufbau, in meiner Generation die Wiedervereinigung.“ Für die heutige bestehe die Aufgabe im Zusammenhalt der Gesellschaft, der Bildung einer liberalen, offenen Gesellschaft unter komplexen Bedingungen in dieser schnelllebigen Zeit.

Ihn wundere, dass so viele Menschen zusehen, wie die Mitgliederzahlen großer Parteien und der Gewerkschaften zurückgehen und die Zahl der Kirchenaustritte zunehme, sagt Wulff. Denn: „Die größte Gefahr für die Demokratie ist die Ignoranz.“ Laut einer Studie des Allensbach-Instituts stellen 31 Prozent der Deutschen das politische System infrage. Sie stimmen der Aussage zu, in einer Scheindemokratie zu leben, in der die Bürgerinnen und Bürger nichts zu sagen hätten. Die Demokratie sei nicht nur von außen, sondern auch von innen gefährdet, wenn man sich zu sicher sei.

Kirche soll sich für Demokratie einsetzen

Unterstützung bezögen diese Menschen auch über das Internet. Dieses erschüttere die Medien, die somit ihre Türöffnerfunktion verlören. „Heute kann jeder seine Meinung an eine große Öffentlichkeit geben“, sagt Wulff. Das sei früher so nicht möglich gewesen. Er habe als junger Mensch Leserbriefe schreiben und hoffen müssen, dass eine Zeitung sie abdrucke. Heute gehe es nicht mehr um Inhalte, sondern um Klickzahlen; grelle Titelzeilen schlagen nüchterne. Wulff blickt 500 Jahre zurück und findet Parallelen: Damals habe die von Luther ins Deutsche übersetzte und per Buchdruck schnell verbreitete Bibel die Gesellschaft im Innersten erschüttert. „Die Kirche und ihre Pfarrer verloren ihr Deutungsmonopol.“ Die Menschen fingen an zu diskutieren – der Beginn der Aufklärung. Heute liege es an jedem selbst, die Nachrichten auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Es brauche in dieser komplexen Gesellschaft das Prinzip der sechs Augen im Gespräch: sich mit den eigenen Augen, mit denen des anderen und von oben betrachten, um eine Gesamtheit zu erhalten.
Auch die Kirche sei gefordert, als Raum für die Gemeinschaft, für den Zusammenhalt.

„Ich will eine starke Kirche“, bekräftigt Wulff. Es brauche dringend eine Kirche – katholisch und evangelisch –, die sich für die Demokratie, die Gesellschaft, einsetze, zusammen mit den Medien, den Parteien, den Gewerkschaften. „Dass viele da sind, die die Augen offen halten. Wir können diese gesellschaftlichen und geopolitischen Krisen besser zusammen lösen.“ Denn die Zeiten werden schwierig bleiben. Es brauche ganz neue, tiefgreifende Veränderungen, damit die Zukunft enkeltauglich werde, und klimaneutral und demokratisch. Hier sei der Ideenreichtum der Menschen gefragt. „Wir müssen unseren Blick weiten und unser Engagement erweitern. Wir brauchen Zivilcourage, müssen Position beziehen und uns für die Demokratie verantwortlich zeichnen.“

Zur Person

Christian Wulff wurde 2010 mit 51 Jahren zum jüngsten Bundespräsidenten Deutschlands gewählt und trat im Zuge der Wulff-Affäre 2012 zurück. Als früherer Bundespräsident vertritt er Deutschland bei ausländischen Staatsakten. Von 2003 bis 2010 war Wulff Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, von 1998 bis 2010 stellvertretender CDU-Vorsitzender. Er ist Vorsitzender der Deutschlandstiftung Integration und Präsident des Deutschen Chorverbands.

Weitere Termine der Veranstaltungsreihe „Forum Bürgerkirche”

18. November bis 11. Dezember: „Inspiration – Kunst in der Bürgerkirche“, Ausstellung mit 50 Künstlern. Öffnungszeiten: Freitag bis Sonntag, 11–17 Uhr. Vernissage: 13.11., 16 Uhr; 30. Dezember: Konzert „Zwischen den Jahren“ – Musikverein Pfalzel und Vokalensemble Schweich; 1. März 2023: Vortrag Bundestagspräsident a.D. Wolfgang Thierse; Juni 2023: Vortrag des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, Stephan Harbarth.

(red)