Psychologie:Leidensdruck nimmt zu
Frau Dr. Pflichthofer, Sie beschreiben einen Verlust von Grautönen in der öffentlichen Debatte um psychische Gesundheit. Was meinen Sie damit?
Es ist sehr gut, dass psychische Erkrankungen und Mechanismen in der Gesellschaft stärker diskutiert werden. Diese Themen sind nicht mehr so tabuisiert wie noch vor 30, 40 Jahren. Aber – und das ist der Anstoß meines Buchs – es ist inzwischen auch ein Geschäft geworden. In diesem Zusammenhang werden vermeintlich einfache Wahrheiten und Lösungen vermittelt – und da bleibt sehr viel auf der Strecke.
Fachleute warnen auch vor zunehmenden Selbstdiagnosen. Wie sehen Sie das?
Es ist bei allen Erkrankungen, auch körperlichen, gefährlich, wenn „Doktor Google“ die Diagnosen übernimmt. Sinnvoll ist es dagegen, wenn Menschen etwa die Anzeichen für einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall kennen. Wer solche Anzeichen beobachtet, geht zum Arzt – und so sollte man es auch handhaben, wenn man den Eindruck hat, vielleicht ein Suchtproblem zu haben oder Symptome einer Depression.
Klingt logisch.
Im Bereich psychischer Erkrankungen gibt es allerdings einen Markt verschiedenster Anbieter ohne fundierte Ausbildung. Die haben ein Interesse daran, dass Menschen immer wieder kommen – und sagen ihnen daher nicht unbedingt das, was helfen könnte, sondern vielmehr, was sie hören möchten. Niemand hört gern: „Sie müssen mit dem Rauchen aufhören und weniger Schokolade essen“ – doch bei bestimmten Erkrankungen ist es das, was ein Mediziner sagen muss. Nicht: „Essen Sie mal weiter Schokolade, trinken Sie vielleicht nur drei Gläser Wein statt fünf“.
Ein therapeutisches Gespräch ist kein freundschaftliches.
Psychoanalytikerin Diana Pflichthofer
Welche Gefahr liegt darin, wenn Therapie zu Kalendersprüchen verkommt?
Ich bin Psychoanalytikerin. Das heißt, mein Anspruch ist, zu verstehen, warum sich ein Mensch so verhält, wie er sich verhält. Also präsentiere ich nicht gleich zu Beginn einen Übungsplan oder ein Manual mit allgemeingültigen Lösungen. Wer keine entsprechende Ausbildung hat, macht zudem schnell den Fehler, von sich selbst auf andere zu schließen – man empfiehlt dann Dinge, die einem selbst geholfen haben. Das würden gute Freunde vielleicht auch tun. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber ein therapeutisches Gespräch ist kein freundschaftliches. Ein Psychotherapeut wird sich persönlich zurückhalten, weil es nicht um ihn geht, sondern um die Person, die Hilfe sucht.
Und die Anbieter auf dem Markt der Psycho-Industrie, deren Methoden Sie hinterfragen?
Bei der Psyche meinen viele Menschen, dass sie mitreden können; dass es nicht so entscheidend ist, wie viel Fachwissen man mitbringt. Dabei würde jemand, der am Flugsimulator mal eine Boeing gesteuert hat, sich niemals in ein reales Cockpit setzen.
Die Psychologin Gitta Jacob beobachtet die Erwartung vieler Menschen, dass „jede Lebenssituation völlig entspannt verlaufen und jede Aufgabe Spaß machen“ müsse. Eine Einschätzung, die Sie teilen?
Um vereinfachte Darstellungen aus der Positiven Psychologie ist ein regelrechter Hype entstanden, das hat weite Teil des gesellschaftlichen Alltags infiltriert. Sätze wie: „Wir gucken nach vorn, nicht zurück.“ Oder: „Das Glas ist immer halb voll, nicht halb leer.“ Es geht um den Anspruch, alles positiv umdeuten zu können. Jede und jeder Einzelne möchte ein erfülltes, superpositives Leben am Limit führen, mit tollen Events, tollen Beziehungen, tollen Erlebnissen. Das wünschen wir uns vielleicht alle, aber es ist nicht die Realität. In der Realität gibt es Krankheiten, Unglücke und Beziehungsmiseren.
Es ist ein großes Problem, dass wir negative Gefühle inzwischen verteufeln.
Psychoanalytikerin Diana Pflichthofer
Realität und Anspruch klaffen also sehr weit auseinander?
Es ist ein großes Problem, dass wir negative Gefühle inzwischen verteufeln. Das sieht man schon bei den Jüngsten, etwa bei der Debatte um die Bundesjugendspiele. Darf man einem Kind noch zumuten, dass es nicht so weit springen kann wie ein anderes Kind? Das ist Frustration, das ist doof. Das macht Neid, Konkurrenz, Ärger – lauter Gefühle mit Minuszeichen. Aber: Den Umgang mit schwierigen Gefühlen einzuüben, ist unvermeidlich.
Wie kann das gelingen?
Kinder brauchen jemanden, der ihnen beisteht und ihnen vermittelt, dass auch schmerzvolle Momente wieder enden, wie sie mit Schmerz umgehen können. Aber die Frustrationstoleranz wird immer geringer. Das zeigt sich auch darin, dass jemand, der traurig ist, ruckzuck als depressiv eingestuft wird – ohne zu prüfen, warum die Person traurig ist. Vielleicht hat sie einen guten Grund dafür.
Sie schildern Fälle, in denen Kinder möglicherweise vorschnell oder gegen den eigenen Willen starke Medikamente wie Ritalin bekommen. Verlernen wir, einander als die Zumutung auszuhalten, die jede und jeder von uns manchmal ist?
Ich bin keine Soziologin, aber mein Eindruck ist: ja. Viele Menschen berichten mir in der Praxis, dass sie über solche Gefühle mit niemandem sprechen können. Es soll nur vorwärts gehen, wir sollen uns alle gut verstehen – wenn jemand sich schlecht oder schräg fühlt, gibt es dafür kaum noch Raum. Aus meiner Sicht ist das ein Entwicklungsproblem.
Inwiefern?
Die Frage ist, wie man mit Frustration umgeht. Häufig reagieren wir auf Frustration mit Kränkung. Man könnte vermuten, dass der Anstieg psychischer Erkrankungen genau damit zusammenhängt: dass man am Arbeitsplatz oder in Beziehungen bestimmte Situationen nicht erträgt, weil einem die psychischen Mittel fehlen, sich mit sich selbst und mit den anderen auseinanderzusetzen.
Zugleich beschreiben Sie den „Wunsch, Affekten freien Lauf zu lassen, ohne die Verantwortung dafür übernehmen zu müssen“.
Gefühlt hört man immer häufiger von Fällen, in denen Menschen sich nicht im Griff haben, aggressiv werden bis zu körperlichen Angriffen. Auch wenn einem der Blutdruck mal durch die Decke geht – zusätzlich scheint die Hemmschwelle zu sinken. Da stellt sich die Frage, was dahintersteckt.
Könnte eine Verlust an Spiritualität zumindest die Sehnsucht nach erklärenden, heilenden Figuren erklären?
Diese Sehnsucht ist ganz normal. Wir sind immer auf der Suche nach guten Eltern-Persönlichkeiten. Je nach innerer Stabilität ist dieser Wunsch mal größer und mal weniger groß. Wer von Mutter und Vater gut umsorgt worden ist, verspürt sie zwar auch, aber möglicherweise nicht ganz so ausgeprägt wie bei Menschen, die das nie erleben durften. Doch es gibt mehr als Coaches, die vermeintlich durch teures Handauflegen oder Blicke helfen. Wer psychodynamisch arbeitet, bietet dagegen Gespräche innerhalb einer Beziehung an und versucht, etwas von dem Menschen zu verstehen, mit dem man es zu tun hat.