Anna berichtet aus 14 Jahren Ehrenamt bei der Telefonseelsorge :Vom abgebrochenen Fingernagel bis zu Selbstmordgedanken
Trier – Wenn das Telefon klingelt, weiß Anna nicht, wer am anderen Ende der Leitung ist. Denn die Gespräche, die sie führt, sind anonym. Auch den konkreten Anlass des Anrufs erfährt sie erst im Laufe des Gesprächs. Klar ist allerdings: Wer hier anruft, hat Sorgen. Und möchte mit jemandem darüber reden. Ohne Druck, ohne Angst vor Zurückweisung oder Verurteilung, ohne den Namen nennen zu müssen. Schon seit 14 Jahren engagiert sich Anna, die in Wirklichkeit anders heißt, ehrenamtlich bei der TelefonSeelsorge (TS). In dieser Zeit hat die Mutter eines Sohnes und stolze Oma zweier Enkelkinder schon einiges erlebt – vom infantilen Scherzanruf über das Jammern wegen eines abgerissenen Fingernagels bis hin zu dem Wunsch eines Anrufers, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen.
Wenn Anna ein Gespräch beendet, horcht sie in sich hinein, ob sie eine kurze Auszeit braucht. Wenn nicht, dauert es nur 30 Sekunden, bis der nächste Anruf zu ihr durchgestellt wird. Die Anruf-Frequenz ist seit der Pandemie gestiegen. Das ist übrigens nicht allein die subjektive Wahrnehmung der Mitarbeitenden, sondern lässt sich konkret an den Statistiken der TS-Jahresberichte ablesen. Immer mehr Menschen suchen immer häufiger und auch länger das Gespräch mit jemanden, dem sie ihre Sorgen, ihre Ängste und auch ihre Geheimnisse anvertrauen können.
Scherzanrufe: „Man entwickelt ein Gespür dafür, ob etwas Fake ist“
Es herrscht also Tag und Nacht Betrieb in der TelefonSeelsorge, oft müssen Anrufende sogar kurz in der Warteschlange ausharren, bis sie jemanden an die Strippe kriegen. Vier Schichten leistet Anna, die nach der Schule eine Ausbildung zur Steuerfachgehilfin gemacht hat, ehrenamtlich pro Monat. Das machen viele im 70-köpfigen Team der TS Trier so, nämlich drei Tag- und eine Nachtschicht, damit die Erreichbarkeit auch wirklich immer, also 24/7 an 365 Tagen im Jahr, gewährleistet ist. Dabei könne man sich die Zeit im Team gut einteilen – und falls mal was dazwischenkommt, findet man gemeinsam flexible Lösungen, versichert Anna, die in ihrer Freizeit nicht nur trostsuchenden Menschen ihr Ohr leiht, sondern auch gerne Musik macht in Chor und Orchester. Ärgerlich sei es, wenn jemand nur zum Spaß anruft, und deshalb Leute, die wirklich Hilfe suchen, nicht durchkommen. „Solche Mutprobenanrufe von Kindern und Jugendlichen gab es eine Zeitlang recht häufig“, erzählt Anna. „Da hört man dann Gegiggel im Hintergrund oder merkt an der Stimmlage, dass das nicht ernst gemeint ist. Mit der Zeit entwickelt man ein Gespür dafür, ob etwas Fake ist“, schmunzelt sie. In der TelefonSeelsorge geht es generell darum, auf Augenhöhe mit dem Gegenüber zu sprechen. Das beinhalte aber auch, ein Gespräch abzubrechen, wenn man merkt, „dass da irgendwas faul ist, wenn ich offensichtlich angelogen werde.“
Der Blick in menschliche Abgründe
Genauso zuverlässig, wie sie Scherzanrufe identifiziert, schrillen Annas innere Alarmglocken, wenn im Laufe des Gesprächs heikle Themen auf den Tisch kommen. Bekenntnisse, die selbst eine „alte Häsin“ wie Anna in Alarmbereitschaft versetzen und ihre eigentlich so tief verankerte Nächstenliebe auf die Probe stellen. Generell gilt natürlich: „Ich bin hier und habe ein Ohr für das, was auf mich zukommt. Ganz wertfrei. Ich hole die Leute ab und hör’ mir an, welche Probleme sie haben.“ Für gewöhnlich kann sie gut damit umgehen, dass andere Menschen eine andere Sicht auf die Dinge haben. Selbst wenn sie diese Sicht nicht teilt, oder sogar persönlich ablehnt. „Wir lernen gewaltfreie Kommunikation in der Ausbildung. Das muss man aber auch umsetzen können in der jeweiligen Situation. Mir tut es gut anzusprechen, wenn mich etwas wütend macht.“ Und Wut komme gezwungenermaßen hin und wieder auf, denn es bleibt nicht aus, dass die Ehrenamtliche mit menschlichen Abgründen konfrontiert wird. Beichtet ein Anrufer eine begangene Straftat, gilt weiterhin das Gebot der Anonymität. Anna ist es wichtig, klar zu trennen: „Er hat eine Tat begangen, die ich verurteile. Aber er ist immer noch ein Mensch. Manche Bekenntnisse nach der Schicht wieder beiseite zu legen, fällt nicht immer leicht”, räumt sie ein. Wem das, was er in den Gesprächen erfahren hat, nahegeht, kann sich jederzeit kollegial austauschen und auch professionelle Supervision in Anspruch nehmen.
„Hier darf jeder seine Sorgen loswerden!”
Anfangs ging Anna davon aus, dass bei der TS vorwiegend Menschen mit Suizidgedanken anrufen, schließlich wurde die ökumenisch getragene Institution ursprünglich zur Suizidprävention gegründet. „Tatsächlich sind diese Anrufe aber in der Minderzahl.” Mit Blick auf die vergangenen zehn Jahre hat sich die Suizidrate in Deutschland laut Statistischem Bundesamt zwar um 3,1 Prozent verringert. Im Jahr 2023 beendeten jedoch 10.300 Menschen ihr Leben selbst, was einen Anstieg von 1,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr bedeutet. „Wenn jemand anruft und sagt, er will sich umbringen, sind wir natürlich erst mal sehr aufmerksam.” In einer solchen Situation sei es wichtig, Mitgefühl zu zeigen. Nach dem genauen Grund für die Selbstmordgedanken fragt Anna aber nie. Stattdessen erkundigt sie sich, ob es irgendetwas gibt, das der verzweifelte Mensch ihr noch mitteilen möchte. „Die Person ruft ja hier an und will sprechen.” Dass jemand, der einen sogenannten Bilanzselbstmord begeht, also ein auf vorheriger rationaler Abwägung der Lebensumstände beruhender Suizid, vorher bei der TS anrufe, sei eher selten. Wer blind vor Verzweiflung sei, brauche meist erst mal „ein Ventil, um aus dem Tunnel herauszukommen – oft ist es gut, die Menschen erzählen zu lassen, was alles mies gelaufen ist und warum sie gerade keinen Ausweg finden”.
Manchmal passiere es sogar, dass Anrufer Suizidgedanken vorschieben, weil sie glauben, man sei sonst nicht berechtigt, bei der TS anzurufen. „Nach zwei Minuten ist dann davon keine Rede mehr und es geht plötzlich um den bösen Nachbarn mit seinen doofen Hühnern”, erzählt Anna. „Dabei muss das gar nicht sein. Hier darf jeder anrufen. Denn wer hier anruft, hat ein Problem – und wenn’s ein abgebrochener Fingernagel ist. Es gibt Menschen, für die ist das ‘ne Katastrophe. Ich bewerte das nicht. Jeder darf hier seine Sorgen loswerden, ganz egal, welche Sorgen das sind”, versichert sie.
Mit Einfühlungsvermögen gegen die Einsamkeit
Immer häufiger melden sich psychisch kranke und einsame Menschen. Vor allem Senioren litten zunehmend an Einsamkeit, so Anna. Auch bei Problemen in der Beziehung wenden sich viele Menschen an die TS. Etwa wenn eine Trennung kurz bevorsteht und sie einen Schlussstrich ziehen wollen, aber nicht wissen, wie sie das schaffen können. „Oft haben sie schon eine Idee, wie sie ihr Problem lösen können, sind aber noch so gefangen in der Beziehung, dass sie keinen Ausweg sehen.” Ein Gespräch könne dann helfen herauszufinden, was sie selbst wirklich wollen. Wenn das nicht reicht, weist Anna auf professionelle Beratungsstellen wie die Lebensberatung hin. Seit ihrem ersten Einsatz am Hörer vor 14 Jahren hat Anna viel erlebt, Menschen Hoffnung geschenkt, einfühlsam gemeinsam mit ihnen nach Lösungen gesucht, aber auch in menschliche Abgründe geblickt. Ihr Fazit: „Die TelefonSeelsorge ist unheimlich kostbar und wichtig – und muss weiterbestehen. Denn der Bedarf steigt. Die Menschen werden immer einsamer, die Frustrationstoleranz sinkt und Depressionen nehmen zu. Deshalb freuen wir uns sehr über Verstärkung in unserem Team!“
Ehrenamtlich in der Telefonseelsorge mitarbeiten!
Wer sich ehrenamtlich engagieren möchte in der TelefonSeelsorge Trier, kann sich an zwei Info-Abenden über die Voraussetzungen und Anforderungen der Ausbildung und späteren Mitarbeit informieren: Online am 21. Januar um 19 Uhr oder in Präsenz am 21. Februar um 18 Uhr in den Räumlichkeiten der Lebensberatung Trier, Kochstr. 2 in Trier. Gibt es eine Passung zwischen den Rahmenbedingungen der Mitarbeit und der persönlichen Motivation, können sich Interessierte für die Kennenlernabende anmelden. Drei aufeinanderfolgende Abende helfen allen Beteiligten, zu einer realistischen Entscheidung zu kommen: wer sind die Anderen in der Ausbildung, wer bildet aus, was sind die Herausforderungen der Tätigkeit, welchen Situationen werde ich begegnen und was bringe ich mit bzw. werde ich entwickeln müssen, um mich dort hilfreich einbringen zu können?
Die einjährige Ausbildung startet dann im April. Anmeldung und weitere Informationen gibt es im Sekretariat der TS Trier: mail@telefonseelsorge-trier.de, Tel.: 0651-72273 und auf www.telefonseelsorge-trier.de.