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Marie Hagenbourger hätte ihren Freiwilligendienst in Bolivien gerne verlängert:Ankommen und abreisen im Ausnahmezustand

Die 19-jährige Marie Hagenbourger verbrachte ihren Auslandsfreiwilligendienst in Bolivien. Durch die Pandemie musste sie früher als geplant nach Deutschland zurückreisen.
Die 19-jährige Marie Hagenbourger aus St. Wendel Foto: Inge Hülpes
Datum:
15. Sept. 2020
Von:
Bischöfliche Pressestelle

Concepción/St. Wendel – Kurz vor Weihnachten macht es plötzlich „klick“ bei Marie Hagenbourger. Zwischen zwei Schulstunden steht die gebürtige Saarländerin im Lehrerzimmer der bolivianischen Schule „Guadalupe Fe Y Alegria“ und lacht über den Witz eines Kollegen. „Das war für mich das Zeichen, dass ich richtig angekommen bin und in die Sprache gefunden hab“, erzählt sie. Die Sprache, die Marie innerhalb weniger Monate gelernt hat, ist Spanisch – und zwar mit bolivianischem Akzent. Denn dort im Tiefland des Andenstaates, nicht weit entfernt von der Großstadt Santa Cruz, verbrachte die 19-Jährige ihren Auslandsfreiwilligendienst mit SoFiA Trier e.V. (Soziale Friedensdienste im Ausland).

Gerüstet mit ein paar Brocken Spanisch und ihrer Klarinette im Gepäck, kommt Marie im September vergangenen Jahres in der Kleinstadt Concepción an – und landet mitten im Ausnahmezustand: Bereits seit Wochen wüten in der Gegend verheerende Waldbrände. Die kirchliche Schule „Guadalupe Fe Y Alegria“, in der Marie assistieren soll, ist zum Feuerwehr-Stützpunkt umfunktioniert worden. Wo für gewöhnlich Kinder und Jugendliche Lesen, Schreiben und Rechnen lernen, kampieren nun rund 200 Feuerwehrleute, die aus dem ganzen Land gekommen sind, um die Löscharbeiten vor Ort zu unterstützen. Und das ist auch bitter nötig, denn bereits Ende August sprachen Berichte von geschätzten 800.000 Hektar zerstörten Regenwaldes auf bolivianischem Staatsgebiet – eine Fläche, die mehr als dreimal so groß ist wie das Saarland. Also wird der Schulunterricht vorerst in die Turnhalle und auf den Pausenhof verlagert. Marie zögert nicht lange, krempelt die Ärmel hoch und packt überall dort mit an, wo eine helfende Hand gebraucht wird: in der Küche, der Apotheke und in der Kleidersortierstelle. „Das war anfangs schon eine beängstigende Situation, denn man weiß ja, um einen herum brennt es gerade. In der ersten Zeit habe ich keinen blauen Himmel sehen können, es war super heiß und dunkel, und man konnte den Rauch deutlich wahrnehmen.“ Wirkliche Angst, dass die Feuersbrunst Concepción erreichen könnte, hat sie jedoch nicht. „Nach einiger Zeit bin ich mit einem Bekannten weiter ins Land reingefahren und habe dort gesehen, was das Feuer angerichtet hat: verkohlte Baumstümpfe und überall abgebranntes Gras. Dieser Anblick hat mich schon traurig gemacht, denn die Natur braucht ewig, um sich zu regenerieren. Die ganze Vielfalt an Pflanzen und Tieren ist nun für lange Zeit zerstört.“

Die universelle Sprache der Musik neu erfahren

Nach einiger Zeit kehrt erst mal wieder Ruhe ein. Marie findet nach und nach in den bolivianischen Alltag, knüpft immer festere Bindungen zu den Menschen vor Ort und lehrt und musiziert in der Musikschule „Padre Martin Schmitt“, wenn sie ihre Aufgaben am Vormittag erledigt hat. „Anfangs habe ich mir schon Sorgen gemacht, wie die Kommunikation mit den Kindern funktionieren soll“, gesteht Marie. „Aber Musik verbindet, denn sie ist eine universelle Sprache.“ Schnell war klar, dass die junge Frau das Orchester der Musikschule unterstützen sollte – und zwar als einzige Holzbläserin unter Streichern. So ungewöhnlich die Kombination, so fruchtbar das Ergebnis: Marie wird ein fester Bestandteil des Ensembles, spielt regelmäßig sonntags im Gottesdienst und auch bei größeren Festlichkeiten wie dem Patronatsfest. „Das Musizieren mit den Bolivianern war sehr lustig, weil es immer spontan und voller Improvisationen war. Ein Lied wurde nie zweimal gleich gespielt, sondern immer ein wenig variiert.“ Dass es außerdem keine Noten gab, irritierte Marie zunächst. „Doch nach und nach habe ich gemerkt, dass ich immer freier werde beim Spielen. Zum Schluss hat das ziemlich gut funktioniert.“

Privatsphäre mit Familienanschluss

Zwar bewohnte Marie ein eigenes Zimmer im Vikariat, doch musste sie nicht auf Familienanschluss verzichten: „Martha, eine Lehrerin, hat mich wie ihre dritte Tochter adoptiert, sie war für mich 24 Stunden am Tag ansprechbar und schon fast wie eine Mutter.“ Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich eine stille Vereinbarung zwischen Marie und ihrer Mentorin, die die junge Deutsche gleich mit „hija“ (Tochter) ansprach. „Am Wochenende bin ich immer durch den Ort spaziert, habe Freunde getroffen und bin danach bei ihr zum Abendessen eingekehrt. Das hatten wir nie so vereinbart. Es war unausgesprochen klar und wurde schnell zum Ritual“, berichtet Marie. „Das ist wirklich eines der schönsten Erlebnisse im Freiwilligendienst, dass man in so kurzer Zeit so herzliche Begegnungen macht und im Herzen seiner Mitmenschen einen Platz finden kann. Auch wenn man nicht mehr vor Ort präsent ist, lebt die Freundschaft weiter.“

Heute, knapp ein halbes Jahr nach dem Corona-bedingt frühzeitigen Ende des Freiwilligendienstes, ist Marie schon wieder auf dem Sprung: Im Wintersemester studiert sie Physik an der Deutsch-Französischen Hochschule Saarbrücken; im ersten Semester allerdings im französischen Nancy. „Die beste Möglichkeit, Naturwissenschaft und Sprachen zu verbinden“, sagt sie, während sie sich einerseits auf den neuen Lebensabschnitt freut, dem alten in Bolivien aber doch noch wehmütig hinterhertrauert. Als sie im März 2020 die Nachricht bekam, dass sie schnellstmöglich wegen der Pandemie nach Deutschland zurückreisen müsse, hatte sie gerade ihren Verlängerungsvertrag unterschrieben. Sechs zusätzliche Monate, also insgesamt anderthalb Jahre, wollte Marie bei ihren neuen Freunden in Conceptión bleiben.

„Ich habe so viele schöne Erfahrungen gemacht, das kann man gar nicht in drei Sätzen zusammenfassen“, schwärmt sie. Diese Erfahrungen könne man zuhause weitergeben. Bewusst entschied sie sich dafür, nicht durch ganz Bolivien zu reisen, sondern in das echte bolivianische Alltagsleben einzutauchen. „Das ist völlig anders, als wenn man als Tourist dort ist. Jetzt weiß ich, dass Bolivien ganz anders ist, als die clichéhafte Vorstellung, die man als oft Europäer hat.“ Vor allem diese Erfahrung wirke später nach: „Nach dem Dienst ist ja nicht alles schlagartig vorbei, im Gegenteil. Die Zeit im Ausland gibt den Impuls, und der Freiwilligendienst arbeitet im Kopf nach.“ Und eins ist klar: „Ich kann gar nicht so viel zurückgeben, wie ich von meinen Mitmenschen dort bekommen habe.“

SoFiA e.V. Trier realisiert seit 1992 internationale Freiwilligendienste und bringt so junge Menschen aus vier Kontinenten miteinander in Kontakt – und das auf Augenhöhe. Die Bewerbung auf www.sofia-trier.de steht jeder und jedem Interessierten offen, unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit. Die Dienste von SoFiA e.V. sind kirchlich und staatlich gefördert; die Freiwilligen bemühen sich um den Aufbau eines Solidaritätskreises, sodass für die Freiwilligen selbst keine Kosten anfallen. Die nächsten Begegnungstreffen zum Reinschnuppern und Kennenlernen sind vom 13. bis 15. November 2020 in Vallendar und vom 29. bis 31. Januar 2021 auf der Marienburg in Bullay.

(ih)