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Auftakt Lebenswirklichkeiten 2023 im Saarland:Entscheider tauchen in das Leben anderer ein

Das eigene Milieu verlassen und sich einen Tag fremd fühlen – und erfahren, wie Geflüchtete, Wohnungslose, Sexarbeiterinnen und Süchtige leben. Darum geht es im Programm „Lebenswirklichkeiten“, das sich an Verantwortliche aus Politik, Kirche und Wirtschaft richtet.
Die Teilnehmenden und ihre Gastgeber beim Auftakt des Programms Lebenswirklichkeiten vor dem Saar-Landtag.
Datum:
20. Juli 2023
Von:
Ute Kirch
Schirmherrin von Lebenswirklichkeiten ist Landtagspräsidentin Heike Becker.

Saarbrücken – „Wenn wir andere Menschen in ihren Lebenswirklichkeiten besser verstehen wollen, dann können wir das am besten, wenn wir Einblicke in ihr Leben haben und uns in ihre Situation versetzen und ihre Lebenswirklichkeit ein Stück weit miterleben dürfen“, mit diesen Worten hat die Präsidentin des Landtags des Saarlandes, Heike Becker, am Dienstag das Ziel des Programms „Lebenswirklichkeiten“ zusammengefasst. Zur Auftaktveranstaltung des gemeinsamen Programms des Diözesancaritasverbandes Trier, des Bistums Trier und der Exposure- und Dialogprogramme e.V. waren rund 100 Personen in den Landtag gekommen.  

„Lebenswirklichkeiten“ ist ein Programm für mehr gesellschaftliche Teilhabe. Es geht darum, Verantwortlichen aus Politik, Kirche und Gesellschaft Einblicke in Lebenswirklichkeiten von Menschen zu geben, mit denen diese im Alltag wenig oder gar keine Kontaktpunkte haben. Im Saarland öffnen sich sechs Organisationen und ermöglichen intensive Kontakte: die Fachberatungsstelle Aldona e.V. - Prostitution, Menschenhandel und Gewalt, der Initiativkreis Wärmestube Saarbrücken e.V., das Bruder-Konrad-Haus des Caritasverbandes Saarbrücken e.V., die Caritaseinrichtungen in der Landesaufnahmestelle Lebach, die Erwerbslosen-Selbsthilfe Püttlingen e.V.  und die Dillinger Tafel des Caritasverbandes Saar-Hochwald e.V..

„Nur wenn wir mit den Menschen ins Gespräch kommen und uns ihre Sichtweisen und Problemlagen anhören, dann können wir hier im Landtag auch gute und ausgereifte Entscheidungen treffen“, sagte Becker, die als Schirmherrin selbst am Programm teilnimmt und einen Tag im Bruder-Konrad-Haus Menschen begegnen wird.

Nicht als "Zoobesucher", sondern als Mensch dem Gegenüber begegnen

Domkapitular Benedikt Welter beim Auftakt von Lebenswirklichkeiten

Rund 70 Personen haben sich bisher für „Lebenswirklichkeiten“ angemeldet, neben Landtagspräsidentin Becker sind dies unter anderem die erste Vizepräsidentin des Landtags Dagmar Heib, der CDU-Fraktionsvorsitzende Stephan Toscani, eine Reihe von Abgeordneten der SPD- und CDU-Landtagsfraktionen, die Vorsitzende der Geschäftsführung der Regionaldirektion Rheinland-Pfalz-Saarland der Bundesagentur für Arbeit Heidrun Schulz, der Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer des Saarlandes Bernd Reis, Bischof Dr. Stephan Ackermann und Weihbischof Franz Josef Gebert.

Das Programm „Lebenswirklichkeiten“ möchte nicht nur für andere Lebenswelten sensibilisieren, sondern auch dazu beitragen, die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft zu durchbrechen, sagte der Vorsitzende des Diözesan-Caritasverbandes Domkapitular Benedikt Welter. „Zu oft bleiben wir in unserem vertrauten Bezug von Wirklichkeit, den sogenannten ,Bubbles‘, und betrachten das Gegenüber mit einer Brille von angesammelten Bildern. Wir sprechen von Leistungsempfängern, Leistungserbringer, Leistungsträgern: In diesem Vokabular entsteht eine gewisse Inhumanität, weil wir es auf Sachen beziehen. Das Programm will, dass wir als Verantwortliche in Politik, Wirtschaft und Kirche die Systematik der Verdinglichung durchbrechen, um tatsächlich Menschen wahrzunehmen. Denn wenn jemand aus der Wahrnehmung herausfällt, ist er oder sie nicht mehr existiert.“ Im Programm sollen die Entscheidungsträger nicht als „Zoobeobachter“ teilnehmen, sondern den Blickwinkel der Betroffenen einnehmen.

 

Vertrauen als Grundlage echter Begegnung

Im Großen Restaurant des saarländischen Landtags lernten sich Teilnehmende und Gastgebende kennen.

Solche Begegnungen setzen Vertrauen vor allem auf Seiten der Menschen voraus, die Einblicke in ihre Lebenswirklichkeit gewähren. „Vertrauen als Grundlage gesellschaftlicher Integration“ lautete daher der Titel des Gastvortrags von Prof. Dr. Philipp Sandermann von der Leuphana Universität Lüneburg. Am Beispiel einer Befragung unter geflüchteten Eltern in Niedersachsen zeigte er, wie diese Vertrauen in frühpädagogische Angebote wie Kindertagesstätten aufbauen. „Das Ergebnis hat uns erstaunt: Geflüchtete Eltern weisen ein sehr hohes Vertrauen und klare Vorstellungen gegenüber frühpädagogischen Angeboten auf.“ Doch Vertrauen sei kein statischer Zustand, der, wenn einmal gewonnen, immer währt. Dieses Vertrauen gelte es aufrecht zu erhalten. Bezogen auf die geflüchteten Eltern regte er an, die öffentlichen Angebote in Deutschland inklusiver zu gestalten. Noch zu oft würde auf der mündlichen Kommunikation in deutscher Sprache bestanden – für Zugezogene zumindest am Anfang zwei große Hürden. Eine mehrsprachige digitale Gesellschaft, die wir seien, mache es notwendig, Gespräche auch digital und etwa auf Englisch zu führen, sodass die geflüchteten Eltern nicht auf Dolmetscher angewiesen seien.

Von Mitte September bis Anfang November werden die Entscheidungsträger an ein bis zwei sogenannten „Exposure-Tagen“ Menschen in den teilnehmenden Organisationen begegnen. Hierfür werden sie von einem erfahrenen Team vorbereitet – im Anschluss ist eine Nachbesprechung vorgesehen. „Exposure heißt sich aussetzen, von seiner Rolle Abstand nehmen und in eine Rolle gehen, die sie nicht kennen. Sie machen sich fremd, denn sie sind fremd in den Kontexten, in die sie eintauchen dürfen. Ich komme aus meinem sozialen Milieu und setze mich einem anderen Menschen aus. Das ist ein bisschen ungewohnt, aber darin liegen ganz große Chancen“, sagte Programmreferent Jörg Hilgers, von Agiamondo, der das Programm begleitet. Er bat alle Teilnehmenden, ihre Begegnungen in den sozialen Einrichtungen nicht medial zu vermarkten. „Es geht darum, aus seiner gesellschaftlichen Rolle herauszugehen und dort nur als Mensch einem anderen Menschen zu begegnen.“  

 

Storyteller gibt erste Einblicke in die anderen Lebenswelten

Jörg Hilgers von Agiamondo, Moderatorin Julia Lehmann und Marina Mokin von der Dillinger Tafel.

Um einen ersten Einblick in die unterschiedlichen Lebenswelten zu geben, hat Journalist und Storyteller Carsten Tesch seine Gespräche mit Menschen bei Aldona, der Wärmestube und die Caritas-Einrichtungen in der Landesaufnahmestelle Lebach im Vorfeld vorgestellt, aus denen er zudem einen Podcast erstellt, der in Kürze erscheint. Auch er habe sich zunächst fremd gefühlt: „Mein Interesse interessierte niemanden“, fasste er seinen ersten Besuch in der Wärmestube zusammen – erst nach und nach mit Hilfe der Mitarbeitenden sei es gelungen, Vertrauen aufzubauen.

Der letzte Exposure-Tag ist für den 3. November vorgesehen, am 24. November gibt es eine Abschlussveranstaltung auf dem Theaterschiff Maria-Helena in Saarbrücken.

Das Programm wird von der „Aktion Mensch“ gefördert und ist auf fünf Jahre angelegt. Auftakt war 2022 in Koblenz. Weitere Informationen und Anmeldung zu den Hospitationen gibt es per E-Mail an lebenswirklichkeiten@caritas-trier.de und auf www.lebenswirklichkeiten-trier.de