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24-Stunden-Lesung mit Klanginstallation in Saarbrücker Jugendkirche:Gedenktag mit Stör-Elementen

Schülerinnen und Schüler der Willi-Graf-Schule Saarbrücken nehmen an Gedenktag für Holocaust-Opfer teil. Die 24-Stunden-Lesung soll bewusst verstören.
Die 16-jährige Charlotte Kohler liest am Holocaust-Gedenktag aus dem 'Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939 – 1945“. (Fotos: Christina Libeaux/Bistum Trier)
Datum:
27. Jan. 2023
Von:
Bischöfliche Pressestelle

Saarbrücken – Ein Stimmengewirr drängt aus den Türen der Jugendkirche eli.ja in Saarbrücken. Im Inneren ist es noch lauter. Der Kirchenraum ist mit roten Strahlern erleuchtet. Vor der Altarinsel steht ein Bildschirm, auf dem sechsstellige Nummern laufen. Vier Tische sind im Kirchenraum verteilt, an denen  einige Schülerinnen und Schüler der Willi-Graf-Schule sitzen und laut vorlesen. Über 100 von ihnen sind am Vormittag des 27. Januars in die Kirche gekommen, um die „Klangstele. Gesang vom Zyklon B. Für das Hören – Gegen das Aufhören“ zu hören oder selbst mitzuwirken.

Anlässlich des 78. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau hat die Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft des Saarlandes (CJAS) in Kooperation mit dem Institut für Lehrerfort- und -weiterbildung (ILF) sowie dem Bistum Trier die 24-stündige Veranstaltung organisiert. An bis zu vier Sprechertischen wird zeitgleich vorgelesen: aus dem „Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939 – 1945“, aus lyrischen Texten und aus Zeitzeugenberichten aus dem Saarland. Das Publikum ist eingeladen, jeweils einige Minuten selbst vorzulesen. Dazu erklingen in stündlicher Wiederholung Werke von Luigi Nono (“Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz”) und Arvo Pärt („Fratres“, „Cantus“, „Pari Intervallo“). Beide Komponisten haben sich in ihrer Musik mit dem Holocaust auseinandergesetzt.

Die 16-jährige Charlotte Kohler, Schülerin der Willi-Graf-Schule, wirkt ruhig, als sie darauf wartet, zum Lesepult zu gehen. „Das Thema ist an sich schon sehr bedrückend. Auch wenn man von den Texten nicht alles versteht – wenn man dann Zahlen heraushört, ist das sehr erschreckend.“  Sie bezieht sich auf Passagen aus dem Kalendarium, die von der Ankunft hunderter Häftlinge in Auschwitz berichten, von denen viele sofort getötet werden. Dann geht sie nach vorne, an den Tisch neben dem Bildschirm, auf dem die Häftlingsnummern der Opfer zu sehen sind. Sie beginnt zu lesen. Manchmal ist ihre Stimme klar zu hören, weil andere Sprecher eine kurze Pause machen. Dann wieder vermischen sich die drei Stimmen, sodass keiner der Texte richtig zu verstehen ist.

Die Veranstaltung „Klangstele. Gesang vom Zyklon B. Für das Hören – Gegen das Aufhören“ dauert 24 Stunden. Das Publikum ist eingeladen, mitzuwirken.

Das Leid der Betroffenen erahnen

Ein gewünschter Effekt: „Durch das Nebeneinander der drei Klangebenen entsteht beim Zuhörer eine Verwirrung, die verstörend wirkt, quasi eine vergiftete Klangstele“, hatte der Leiter des ILF, Thomas Mann, im Vorfeld erklärt. Diese Verstörung sei gewollt und lasse die Erschütterung und das Leid der Betroffenen erahnen. Auch Charlotte sind die Minuten des Vorlesens nahe gegangen: „Es war echt viel, zu lesen, wie viele Menschen gestorben sind, wie sie wie Dinge behandelt wurden.”

„Das Thema wird auf jeden Fall im Unterricht nachbereitet werden“, erklärt Bernd Schütz, Schulpfarrer an der Willi-Graf-Schule. Der Nationalsozialismus und der Holocaust seien an der Schule ein wichtiges Thema, auch wegen des Namenspatrons Willi Graf, der der Katholischen Jugendbewegung angehörte und als Mitglied der Widerstandsgruppe “Weiße Rose” durch Nationalsozialisten umgebracht wurde. „Der Holocaust-Gedenktag ist ein fester Punkt im Schuljahr, so Schütz.“

Die Veranstaltung wird noch bis Mitternacht am 27. Januar live gestreamt. Auch im Anschluss ist das Video abrufbar.

Hintergrund:
Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im heutigen Polen. Seit 1996 ist der 27. Januar als „Tag des Gedenkens der Opfer des Nationalsozialismus“ offizieller gesetzlicher Feiertag. Neben den rund sechs Millionen ermordeten Juden wird an diesem Tag auch der getöteten Kommunisten, Sozialisten, Widerstandskämpfer und der Bürger gedacht, die vom NS-Regime als „unwertes Leben“ bezeichnet und vernichtet wurden.

(cl)