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Interview mit dem Bistumspriester Stephan Wahl in Jerusalem :Israel und Palästina: Schrecken, Zwiespalt und Wut 

Interview mit dem Bistumspriester Stephan Wahl. Er lebt und arbeitet seit 2018 in Jerusalem. 
Ein Porträtfoto von Stephan Wahl in Nahaufnahme.
Datum:
23. Apr. 2024
Von:
Die Fragen stellte Stefan Weinert

Der 7. Oktober 2023 gilt als Zäsur in der an Schreckensmeldungen leider reichen Geschichte des Nahen Ostens: Der Überfall der Hamas und anderer palästinensischer Terrorgruppen auf Israel mit der Ermordung von über 1.100 Menschen und der Geiselnahme von über 230 weiteren; seitdem der Kampf der israelischen Armee gegen die Hamas im Gazastreifen mit bisher vermutlich über 30.000 Toten, die meisten davon Zivilisten. Zuletzt die offene militärische Konfrontation zwischen Israel und Iran, mit dem massiven iranischen Luftangriff gegen Israel in der Nacht vom 13. auf den 14. April als Höhepunkt. 

Der Trierer Bistumspriester Stephan Wahl lebt und arbeitet seit 2018 in Jerusalem. Bundesweit bekannt wurde er unter anderem durch seine jahrelange Mitarbeit beim „Wort zum Sonntag“ und seine spirituell-poetischen Texte.  
 
Herr Wahl, wie erleben Sie persönlich gerade die Situation? 
Das Verrückte in dieser Situation ist ja eigentlich, dass mein normaler Alltag völlig unberührt ist. Ich lebe hier in Shuafat, einem Viertel im arabischen Ostteil von Jerusalem. Also im, auch was Raketenangriffe angeht, sichersten Teil von Jerusalem. Trotzdem ist aber immer der Gedanke da, dass 90 Kilometer Luftlinie entfernt immer noch Krieg ist, dass in Gaza Menschen leiden, Menschen sterben. Um es vielleicht anschaulicher zu machen: Das ist, als wenn man in Trier lebt und seit Oktober wäre in Saarbrücken Krieg.

Wie reagieren die Menschen in Israel? 
Ganz unterschiedlich. Es gibt Leute, die durch den iranischen Angriff besonders nervös geworden sind. Andere sehen das nicht so dramatisch und sagen: Die Armee hat ja alle Raketen und Drohnen abgefangen. Die Breite der Reaktionen ist seit dem Gaza-Krieg ziemlich groß. Es zeigt sich aber deutlich, dass die Unzufriedenheit mit der Regierung Netanyahu wächst.

Es gibt also wieder öffentlichen Protest? 

Den gibt es, weil viele nicht akzeptieren, dass das erste Kriegsziel im Moment anscheinend wirklich nicht die Befreiung der Geiseln ist, sondern diese törichte Maxime von Netanyahu, die Hamas endgültig zu besiegen - was wahrscheinlich nie gelingen wird. Deshalb werden die Angehörigen der Geiseln immer misstrauischer, auch im Blick auf die Verhandlungen mit der Hamas; aus ihrer Sicht müsste es längst Fortschritte gegeben haben. Der Protest wächst.  

Sie leben im arabischen Ostteil Jerusalems. Wie ist die Stimmung dort? 

Wenn man dort mit jemandem spricht, merkt man, dass der Zorn gegenüber den Israelis immer größer wird. Es ist meine große Sorge, dass diese Wut weiterwächst; und dass der auch hier empfundene Schrecken über den 7. Oktober – es ist ja nicht so, als ob hier alle applaudiert hätten -, dass der dann ganz in den Hintergrund rückt.  

Welche Rolle spielen die christlichen Kirchen in dieser Situation? 

Wir Christen machen ja gerade 1,5 bis zwei Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Der römisch-katholische Patriarch von Jerusalem, Kardinal Pierbattista Pizzaballa, äußert sich sehr deutlich in seinen Friedensinitiativen. Dabei steht er vor der Schwierigkeit, auf der einen Seite das Massaker des 7. Oktober mit seinen Folgen in den Blick zu nehmen und zu verurteilen, gleichzeitig aber auch zu sehen, was in Gaza passiert, wo zum Beispiel die katholische Pfarrei sehr betroffen ist. Aber was Kardinal Pizzaballa sagt, wird in Israel kaum wahrgenommen, er wird hier sicher nicht in den Abendnachrichten auftauchen.  

Für viele der palästinensischen Christen ist es eine ganz schwierige Lage. Auf der einen Seite fühlen sie sich als Christen und wollen auch nach diesen Werten leben. Auf der anderen Seite sind sie natürlich Palästinenser und fühlen auch mit den muslimischen Brüdern und Schwestern in Gaza. Das ist ein Zwiespalt. Ein anderer Zwiespalt, den es im Land gibt, betrifft die israelischen Araber oder palästinensischen Israelis; also arabisch-stämmige Menschen, die in Israel leben, die israelische Staatsbürgerschaft haben und sich auch als Israelis fühlen. Sie erleben jetzt einen Zwiespalt zwischen ihrer Sympathie für Israel und gleichzeitig der Antipathie gegen Israel, weil sie sich kulturell auch als Palästinenser fühlen. Es gibt sehr viele zerrissene Seelen bei den Palästinensern.   

Wie kann es weitergehen? 

Keiner weiß so genau, wie es weitergeht und wie das alles gelöst werden soll. Es gibt Hoffnungen, dass nach dem Krieg vielleicht die Zwei-Staaten-Lösung neu diskutiert wird, weil Amerika und Europa in diese Richtung Druck machen. Aber das ist völlig unklar, im Moment lebt man hier von einem Tag zum anderen.  Es fehlen charismatische Persönlichkeiten, die nach vorne schauen, die selbstlos in Richtung Frieden blicken. Da sind Netanyahu und seine Regierung die Falschen, das Land ist in falschen Händen. Ob sich daran bald etwas ändert, weiß man nicht. Aber wie ich in einem Text geschrieben habe: Ich gebe die Hoffnung nicht auf, trotz allem, trotz allem, trotz allem! Wer weiß, was in den nächsten Wochen und Monaten passiert.  Ich hoffe jedenfalls sehr, dass das Blutvergießen in Gaza und auch in der Westbank- möglichst bald aufhört. 

 (Die Fragen stellte Stefan Weinert)